„Künstlerische Wissenschaftsforschung“
Eine Perspektive auf Nana Petzets Neukonfigurierung künstlerischer, wissenschaftlicher und ökologischer Systeme
Idis Hartmann und Tim Jegodzinski
Die Künstlerin Nana Petzet arbeitet konzeptuell und realisiert ihre Projekte in zahlreichen Medien, etwa Installationen, Performances oder künstlerischen Forschungsprojekten. Ihre temporäre Lichtinstallation Lichtfalle Hamburg (2015/2018) stellt eine wegweisende Arbeit der Lichtkunst dar, mit der sie auf das Problem der Lichtverschmutzung im öffentlichen Raum aufmerksam gemacht hat, der auch Habitat für nichtmenschliche Wesen, besonders Insekten, ist. Damit hat Nana Petzet einen entscheidenden Beitrag zum Diskurs über die ökologischen Auswirkungen von Lichtkunst und Kunstlicht im Anthropozän geleistet.
Im Anthropozän ist der Mensch zu einem der wichtigsten Einflussfaktoren auf die biologischen, geologischen und atmosphärischen Prozesse der Erde geworden. Mit dieser These hat die wissenschaftliche und politische Debatte um den Klimawandel, ökologische Krisen und den Umgang des Menschen mit dem System Erde eine neue Ausrichtung erhalten, denn es wurde wissenschaftlich nachgewiesen, dass globale Veränderungen vom Menschen verursacht wurden und vielfach nicht umkehrbar sind. Dies hat die Frage nach der Verantwortung des Menschen und seiner Zentralstellung im Sinne eines Anthropozentrismus, nach moralischen, ethischen und politischen Handlungszwängen sowie nach einem besseren Zusammenleben von menschlichen und nichtmenschlichen Wesen neu und eindringlich gestellt. Dabei wurden auch alternative Begriffe vorgeschlagen, insbesondere, um dem Menschen, dem anthropos, nicht wieder eine herausgehobene Stellung zu verleihen und um darauf hinzuweisen, dass nicht alle Menschen zu gleichen Teilen Verantwortung tragen. Donna Haraway spricht etwa vom Chthulucene, das das „Chtonische“, also das Erdverbundene meint und zahlreiche nichtmenschliche Akteure, mit denen wir uns einem gemeinsamen, sympoietischen Prozess des Mitwerdens befinden, in den Blick rückt, um eine anthropozentrische Perspektive zu verlassen, oder dem Kapitalozän, das die Verantwortung des Kapitalismus beschreibt. Clémence Hallé und Anne-Sophie Milon haben die zahlreichen Neologismen in einer A (Hi)story with a Thousand Names zusammengefasst.*1
Nana Petzet hat nun gemeinsam mit dem Biologen Bernd Reuter und einem Team aus Wissenschaftler:innen und Freiwilligen untersucht, welche Auswirkungen das Stadtmarketingprojekt Blue Port auf die Insektenvielfalt im Hamburger Hafen hat. Bei diesem Spektakel wird der Hafen in grelles, kurzwelliges blaues Licht gehüllt, das eine blaue Stunde simuliert und Insekten besonders anlockt. Nana Petzet hat mit entsprechenden blauen Leuchtmitteln eine Lichtfalle gebaut, diese auf einem Schiff postiert und die Vielfalt nachtaktiver Insekten im Ökosystem Hafen untersucht. Dabei hat sie gezeigt, dass die durch Spektakel wie Blue Port und Werbung illuminierte Stadt selbst zu einer Lichtfalle wird und die Nacht verschwindet. Nicht zuletzt diese Arbeit hat ein grundlegendes Umdenken in der Lichtkunst wie auch in der Stadtplanung angestoßen.
Das Interesse an Ökosystemen, Kreisläufen, Netzwerken und das Verhältnis von Lebewesen zu ihrer Umwelt sowie die Verflechtung von verschiedenen Sphären etwa Kunst und Natur, Kunst und Wissenschaft prägen alle Arbeiten von Nana Petzet. Sie greift auf das epistemische Potenzial der Kunst zurück, steht aber dem Begriff künstlerische Forschung kritisch gegenüber – schließlich ist, laut Petzet, alle gute Kunst auch Forschung. Sie betreibt, wie sie es selbst nennt: „künstlerische Wissenschaftsforschung“, das heißt, sie befragt konkret die Wissenschaften und ihre Praktiken selbst *2, womit sich Petzets Vorgehensweise anschlussfähig zeigt an den Gedanken der Philosophin Judith Siegmund, der zufolge von künstlerischer Forschung sinnvollerweise nur dann gesprochen werden kann, wenn „Kunst so arrangiert oder formiert werden könnte, dass sie gegebenenfalls in einigen speziellen Fällen etwas zur Praxis der Forschung beiträgt“ *3
In ihrer Performance Rational Scientific Art (1987, Projektwoche, Aula Akademie der Bildenden Künste München) stellt Petzet beispielsweise in einem Vortrag und mithilfe von vierzehn gemalten Schautafeln die preisgekrönten physikalischen Grundlagenforschungen zur Gravitationstheorie eines Prof. Dr. Roland Zoschka vor, die aber auch wie die Figur des Professors selbst fiktiv sind. Die wissenschaftliche Terminologie, die zahlreichen Formeln an den Schautafeln, die Anschlussfähigkeit an physikalisches Schulwissen und inszenierte Zwischenfragen von „Kritikern“ lassen die Rezipierenden trotz des ironischen Untertons und des offensichtlichen Kunstkontexts dennoch im Unklaren über die Wahrhaftigkeit des Ganzen. Damit rückt Petzet die Macht wissenschaftlicher Vorträge durch ihre Rhetorik, Inszenierung und Visualisierung Wahrheit zu suggerieren in den Fokus. „Naturwissenschaft wird zur Kunst erklärt“: Dieser Satz aus Rational Scientific Art ist nicht nur als Erweiterung des Kunstbegriffs zu lesen, er macht auch auf die „Künstlichkeit“ der Erlangung wissenschaftlicher Erkenntnisse aufmerksam, zu einem Zeitpunkt als Autor:innen wie Donna Haraway oder Bruno Latour erst beginnen, die Konstruiertheit und Situiertheit von Wissen in einem Akteur-Netzwerk zu erforschen und lange, bevor diese in aller Munde sind. Petzet hat zuerst die Wissenschaftstheoretikerin Karin Knorr-Cetina (Die Fabrikation von Erkenntnis, 1984) rezipiert, später hat sie auch Bruno Latours Schriften gelesen. Sie bezieht sich aber auch auf Wissenschaftler wie Niels Bohr und Werner Heisenberg, die gezeigt haben, dass der Messvorgang, die Beobachtung im Mikrokosmos der Elementarteilchen, immer Einfluss auf das beobachtete Phänomen hat, was schließlich mit der Kybernetik zweiter Ordnung in der Beobachtung der Beobachtung mündet.
So sind Theorien und die Frage ihrer empirischen Überprüfbarkeit ihrer Beobachtbarkeit oft der Fokus von Nana Petzet ebenso wie Themen, die Kunst und Wissenschaft gleichermaßen erforschen, etwa Materie und Materialität, konkreter und abstrakter Raum, verstreichende, erlebte und abstrakte Zeit. Dabei begleiten ihre Projekte immer auch eine gehörige Portion Witz und Ironie, mit der sie den Objektivitäts- und Wahrheitsanspruch der Wissenschaft persifliert und die Absurdität manch theoretischer Modelle vor Augen führt.
Die Performance und Installation Reversion als Realisation negentropischer Prozesse im makroskopischen Bereich (1992) untersucht etwa Zeit und Phänomene der Entropie. Während die menschliche Erfahrung die Unumkehrbarkeit der Zeit suggeriert, ging die Wissenschaft von der grundsätzlichen Reversibilität physikalischer Prozesse aus, bis Ilya Prigogine mit seiner Theorie dissipativer Strukturen die Irreversibilität und Geschichtlichkeit von physikalischen und chemischen Ereignissen zeigen konnte. *4 In Petzets Arbeit versucht wiederum Prof. Dr. Roland Zoschka im Rahmen einer Versuchsreihe ein durch Schallwellen zerstörtes Glas, in einem als „Reversion“ bezeichneten Vorgang wieder in seinen ursprünglichen Zustand zurückzuversetzen. Vor dem Hintergrund der thermodynamischen Definition von Entropie erscheint ihm dies möglich.
Die Arbeit Schrödingers Katze (1992) zeigt wiederum die Tragik und Brutalität, würde man das bekannte Gedankenexperiment Erwin Schrödingers tatsächlich realexperimentell mit einem lebendigen Tier überprüfen. Bei dem Gedankenexperiment von Erwin Schrödinger befinden sich in einem geschlossenen Raum eine Katze und eine winzige Menge radioaktiver Substanz, deren Atome innerhalb einer bestimmten Zeitspanne mit einer gewissen Wahrscheinlichkeit zerfallen. Der Zerfall wird mittels eines Geigerzählers gemessen und löst die Freisetzung von Giftgas aus, welches die Katze tötet. Solange die Kiste geschlossen ist, herrscht ein Zustand der Überlagerung, das heißt die Katze ist gleichzeitig tot und lebendig. Mit der Beobachtung, der Messung, verändert sich der Zustand des Systems. Schrödinger wollte die Unvollständigkeit der Quantenmechanik zeigen, und dass die Quantenmechanik als ein „verwaschenes“ Modell fehlgedeutet wird, wenn etwa die Unbestimmtheit in der Quantenphysik mittels makroskopischer Experimente überprüft wird, in denen Erkenntnisse mithilfe direkter Beobachtung und sinnlicher Wahrnehmung gewonnen werden. In einer Zeit, in der die Deutung der Theorien und die Erforschung der Quantenphysik noch immer in vollem Gange ist, stellt Petzet mit ihrer Arbeit die Frage, wie wir mit solchen wissenschaftlichen Erkenntnissen und Modellen sowie ihren Anwendungsmöglichkeiten umgehen wollen.
Die Frage nach der (Ir)reversibilität von Zeit und der Prozessualität von Materie thematisiert Petzet auch in der Arbeit Der Tausendjährige Raum TARA (1988). Im Rahmen eines „Forschungsprogramms über die Beziehungen des menschlichen Organismus zur umgebenden Außenwelt“ kann mit diesem „neuartigen komplexen Alterungssimulator“ die Alterung von Wohnräumen, um den Faktor 103 beschleunigt, untersucht werden. Mithilfe eines künstlichen Klimas, einer künstlichen Sonne, einer Staubmaschine, mit Hilfskräften, die den Raum abnutzen und beschädigen, sowie Handwerkern, die ihn alle paar Tage renovieren, altert der Raum in 365,26 Tagen um tausend Jahre. Tafeln mit Diagrammen und Vorträge informieren über das Projekt. Wand- und Bodenproben werden wie serielle Kunst präsentiert. Solche wissenschaftlichen Simulationen zur Abnutzung und Alterung gibt es natürlich tatsächlich, allerdings erscheinen sie hier doch gänzlich absurd, stehen Aufwand und Erkenntnisgewinn in keinem Verhältnis. Am realen Einzelfall geht die Künstlerin also empirisch philosophischen Fragen nach, etwa der des „Schiff des Theseus“, ob ein Gegenstand seine Identität verliert, wenn viele oder gar alle seiner Einzelteile nacheinander ausgetauscht werden. Vor allem aber bereitet Petzet mit diesen Arbeiten Materialitätsdiskurse in der Kunst vor, die sich in den 2000er-Jahren entfalten.
Für die Arbeit Modellversuch Rot (1991) malt Nana Petzet etwa eine Serie von 73 identischen, monochromen Bilder. Diese sind jeweils in drei Felder unterteilt, die in Acryl, Öl und Eitempera gemalt sind. Anschließend schickt Petzet die roten Leinwände auf Reisen zu Ausstellungen. Bei regelmäßigen Kontrolluntersuchungen dokumentiert sie, welche Spuren der Kunstbetrieb mit seinen Wanderausstellungen und den in den 1990er-Jahren zunehmenden Biennalen an den Gemälden hinterlassen hat. Die Leinwände werden also zum wissenschaftlichen Untersuchungsobjekt, zu „Malereimodellen“ *5. Damit führt Nana Petzet als eine der ersten vor, wie nicht nur der soziale Kontext der Institution die Produktion und Rezeption von Kunst beeinflusst, sondern auch, wie sich Kunstobjekte unter den materiellen Bedingungen globaler Kunstnetzwerke verändern. Sie rückt die materielle Situiertheit der Kunstobjekte, ihre Transformationen innerhalb der Akteur-Netzwerke, in denen sie verwoben sind, in den Blick. Die konkret-abstrakten Gemälde werden hier nicht nur als Objekt, sondern als in einem Prozess begriffen, verstanden. Ihre Auseinandersetzung mit dem Kunstbegriff, Systemen und Materialität führt Nana Petzet so auch zu einer neuen institutionskritischen Perspektive.
Ihre Forschungen zu materiellen Kreisläufen setzt Nana Petzet aber auch zunehmend mit einem Fokus auf ökologische Systeme und Recyclingkreisläufe fort. Sie entwickelt das SBF-System (Sammeln, Bewahren, Forschen) (1995–2001) – eine Alternative zum Grünen Punkt. Während das System des Grünen Punkts dem „Verbraucher“ das Recycling abnimmt, seinem Blick entzieht und damit zu einem guten Gewissen verhilft, ist das SBF-System auf eine lokale Wiederverwertung und Aufwertung durch den Verursacher des Mülls selbst angelegt. Dieser ist aufgefordert, allen Müll zu sammeln, zu reinigen und dann kreativ etwas daraus herzustellen, ihn zu reparieren oder umzunutzen. Während beim Recycling oft ein Material mit schlechteren Eigenschaften, noch dazu mit hohem Transport- und Energieaufwand, erzeugt wird, schlägt Petzet hier ein Upcycling vor, zu einer Zeit, in der dieser Begriff gerade erst entstanden ist. Dabei greift Petzet mit einem Augenzwinkern und produktiv gleichzeitig allerdings auf traditionelle Techniken und Sachbücher zurück, etwa Aus Alt wird Neu, Bastelarbeiten für unsere Soldaten (1944).
Auch bei diesen Arbeiten stehen der Prozess, den das Objekt in seinem Leben durchläuft, und seine Agency im Zentrum des Interesses. In einer Konsum- oder Wegwerfgesellschaft begreift sie Müll so wortwörtlich als „Wertstoff“, dem ein Potenzial innewohnt, das es zu erkennen gilt. Sie erklärt also nicht einfach Alltagsobjekte zur Kunst und spricht ihnen konzeptuell künstlerischen Wert zu, sondern fragt, ob wir den Wert eines Alltagsobjekts in Zeiten ökologischer Krisen nachhaltiger beurteilen können, wenn wir eine künstlerische Perspektive einnehmen. Sie nutzt das Potenzial von Kunst, die schon immer Objekte und Materialität erforscht hat, um diese kreativ nutzen und umnutzen zu können, so verweist der Titel SBF – Sammeln, Bewahren, Forschen – auf die Kernaufgaben des Museums. Petzet greift auf handwerkliche, hauswirtschaftliche und DIY-Techniken zurück, repariert, restauriert, überarbeitet, verarbeitet weiter. Dabei geht es ihr auch um eine soziale Praxis, in der Ideen ausgetauscht werden, Energiebilanzen, der Verbrauch von Ressourcen und Transportwege, eine Ökobilanz oder „Lebensabschnittsanalyse der gesamten Abfallmenge“ notiert werden. Das SBF-System, das Nana Petzet vorschlägt, setzt sie konsequent und exemplarisch in dem Selbstversuch: Wohnen nach dem Motto „Sammeln, Bewahren, Forschen“ Nýlendugata 15, Reykjavík (1997–1998) um, bei dem sie während eines halbjährigen Aufenthalts in Island den Müll ihrer Familie sammelt, wiederverwertet und in ihrem Haus ausstellt. Als Nana Petzets Großtante Erika stirbt, gelangt 1999 deren Nachlass in die Sammlung der Künstlerin. An ihm lässt sich der beispielhaft bewahrende Umgang mit Gegenständen des täglichen Gebrauchs einer Generation zeigen, die den Mangel nach zwei Weltkriegen erlebt hat.
Das Objekt wird bei Nana Petzet also als Akteur in einem Netzwerk bzw. System und als in einem ständigen Prozess sichtbar. „Müll“ ist nur ein Zustand, den das Objekt durchläuft. Auch das Kunstobjekt wird nicht als Readymade begriffen, das in den Ruinen des Museums endet, sondern als Zwischenstufe, die Ausstellung wird zum Zwischenlager: Der Flaschentrockner wird wieder verwendet, um ausgewaschene Milchtüten zu trocknen oder als Postkartenständer. Müll wird als Wertstoff begriffen und Kunst erhält wieder Gebrauchswert. Petzet geht aber noch einen Schritt weiter und hinterfragt auch die Umnutzung von Müll als ästhetisches Alltagsobjekt, so sind denn einige Körbe aus Plastiktüten und Fußabtreter, Raumteiler oder Kulturbeutel aus Milchtüten irgendwann genug, sodass man letztlich doch über die Müllvermeidung nachdenken muss.
Petzet bleibt zudem nicht auf den europäischen Kontext fokussiert, sondern blickt auch nach Afrika, wo sich notgedrungen früh eine Upcyclingkultur entwickelt hat, wie Petzet in ihrer künstlerischen Recherche zur Abfallwiederverwertung in Addis Abeba (2011–2012) zeigt. Mit dem Projekt Community Cooker (2017) bezieht sich Petzet auf die in Afrika gemeinschaftlich genutzten Herden, die mit Plastikabfällen betrieben werden. Diese bergen natürlich ökologische und gesundheitliche Risiken. Stellt man sie in die Nähe einer Müllverwertungsanlage in Deutschland, lenken sie den Blick darauf, dass auch in Europa noch immer viel Plastik verbrannt wird.
Bei der Inventarisation der Sammlung mit HIDA MIDAS (2000–2017) erweitert Nana Petzet ihre Konzeption des SBF-Systems um dezidiert institutionskritische Fragen. Sie katalogisiert in der Hamburger Kunsthalle ihre Müllsammlung mit dem Kunstinventarisierungssystem HIDA MIDAS, das entwickelt wurde, um die Komplexität von Kunstwerken, ihre vielfältigen Beziehungen untereinander und zu anderen Entitäten zu erfassen. Dabei hat sich gezeigt, dass nach einiger Anpassungsarbeit das Inventarisierungsprogramm erstaunlich gut geeignet ist, eine Müllsammlung zu erfassen. Petzet macht so nicht nur deutlich, dass Kunstobjekte als Akteure in einem Netzwerk beschrieben werden können, weil sie produziert, benutzt, beschädigt, repariert, gesammelt werden, aus verschiedenen Teilen zusammengesetzt sind, verschiedene Funktionen besitzen und verschiedene Besitzer durchlaufen, sondern auch, dass sich alle Alltags-, Recycling- und Müllobjekte damit erfassen lassen. Dies zeigt zum einen, dass ein Kunstinventarisationssystem dazu dienen kann, das Akteur-Netzwerk eines Objekts zu skizzieren bzw. nachzuzeichnen. Zum anderen stellen sich grundlegende Fragen zur Kunst, etwa, was ein Kunstobjekt heute noch von anderen Objekten unterscheidet.
Bei einem Blick auf Petzets Website stößt man zuerst auf ein Diagramm, das an ein Akteur-Netzwerk erinnert. Es zeigt, wie Nana Petzet zahlreiche ihrer jüngeren Projekte begonnen hat: mit einer Zeichnung um vier Begriffe, die die möglichen Akteure und ihre möglichen Beziehungen zueinander skizziert. Die Beschäftigung mit Kreisläufen und Netzwerken, mit der Petzet die Beziehungen von Objekten zu ihrer Umwelt, ihre Relationalität untersucht, ermöglicht es ihr schließlich, in einem weiteren Werkkomplex, eine ökologische Perspektive einzunehmen.
Sie beschäftigt sich intensiv mit dem französischen Insektenforscher Jean-Henri Fabre, der sich im 19. Jahrhundert der Verhaltensforschung von Tieren widmete. Er war Wegbereiter der Ökophysiologie, die erforscht, wie die Physiologie von Lebewesen in direkter Beziehung zur Umwelt steht. Dabei war er nicht an damals modernen Methoden interessiert, das heißt nicht an toten Präparaten, sondern vor allem an lebenden Tieren und der Beobachtung ihres Verhaltens. Für seine leidenschaftliche Insektenbeobachtung legte er eigens einen Garten an, der ihm als Labor diente. Diese Beobachtung in situ war noch direkt mit der Anschauung, der Aisthesis und damit der Kunst verbunden. Fabre war auch Dichter gewesen und hat ebenfalls Kunst und Wissenschaft in seinem Wirken miteinander verwoben.
Die genaue Beobachtung lebendiger Individuen der Tier- und Pflanzenwelt erlangt nun gerade im Zeitalter des Anthropozän, in dem das Verhältnis zur Natur und der Wissenschaft neu konfiguriert wird, wieder neue Bedeutung. So betont etwa Katherine Hayles im Anschluss an Vilém Flussers Essay Vampyroteuthis Infernalis, wie wichtig es ist, eine nicht-hierarchische, symmetrische Beziehung zu den nicht-menschlichen Wesen aufzubauen und ihre Agency anzuerkennen, will man diese nicht nur biologisch, sondern auch in ihrer phänomenologischen Welterfahrung verstehen. *6 Flusser unterscheidet zwei Methoden, die wissenschaftlichen Erkenntnisse der Biologie und die „intersubjektive“ wissenschaftliche Praxis, die dazu tendiert, den Standpunkt des Subjekts gegenüber einem zu erforschenden Objekt zu verlassen und bei dem das zu ergründende Gegenüber den Menschen wirklich „betrifft“ *7 Diese „subjektive Wissenschaft“ zeigt sich bei Amateurwissenschaftlern und Naturkundlern, die die Natur und andere Lebewesen nicht nur aus einer objekt-wissenschaftlichen Perspektive, sondern auch aus einer persönlichen Leidenschaft heraus beobachten, wie Fabre und Petzet. Sie birgt das Potenzial für ein neues Zusammenleben mit den lebendigen Mitwesen auf dieser Erde.
Nana Petzet orientiert sich in ihrer künstlerischen Wissenschaftsforschung also nicht in erster Linie an den neusten wissenschaftlichen Methoden, die abstrakt und anhand von Big Data Erkenntnisse mithilfe digitaler Technik erlangen, sondern an Feldforschern wie Jean-Henri Fabre, deren Arbeitsweise sie in ihrer künstlerischen Praxis aktualisiert. Es geht ihr um den realen, konkreten Einzelfall, nicht die abstrakte, gar virtuelle Datenmenge. Sie geht empirisch vor und von der Beobachtung aus. Dabei bleibt das Lebewesen bzw. das Objekt ihrer Beobachtung ein Individuum. Die Rezipierenden ihrer Kunstwerke lernen die Akteure, die Insekten, Tiere etc. so als Kooperationspartner kennen und können potenziell neu in Beziehung zu diesen Lebewesen treten.
Vor diesem Hintergrund wird auch das Potenzial der Arbeit Kaninchenethogramm Robby ersichtlich, die 2007 auf der Gruppenausstellung Say it isn’t so. Naturwissenschaften im Visier der Kunst im Weserburg Museum für Moderne Kunst gezeigt wurde. Für diese Arbeit stellt Nana Petzet Grundzüge ihres Wohnzimmers mitsamt Kaninchenstall nach und platziert darin ihr lebendiges Wohnungskaninchen Robby, das sich bei der Künstlerin in der heimischen Wohnung ganz frei und ohne Beschränkungen bewegen darf. Nicht zuletzt aufgrund der Domestizierbarkeit von Kaninchen, ihrer viel bemerkten Loyalität und Sozialität gegenüber ihrer humanen Familie setzt sich die House Rabbit Society unter anderem dafür ein, anderen Menschen zu vermitteln, wie sie Kaninchen möglichst artgerecht in den eigenen vier Wänden halten können. *8 Diese Eigenschaften von Kaninchen führen sodann auch dazu, dass man sich im Fall von Petzets Installation aufgrund der darin befindlichen Stangenhürden im Miniaturformat unmittelbar an Ausführungen Donna Haraways in ihrem Manifest für Gefährten erinnert, in welchem die Autorin unter anderem auf die Hundesportart Agility eingeht: Man ist geneigt, in deren das Essay bestimmenden ersten Leitfrage „Wie könnten wir durch das Ernstnehmen von Hund-Mensch-Beziehungen eine Ethik und Politik erlernen, die signifikante Andersartigkeit gedeihen lässt?“ *9 das Wörtchen „Hund“ durch „Kaninchen“ zu ersetzen und in den aufgebauten Stangenhürden eine Art von Kaninchen-Agility zu erkennen, wobei es sich ja tatsächlich um eine interspezifische, sportliche Betätigungsform handelt, die – aus Skandinavien kommend – bereits seit den 1980er-Jahren zwischen Menschen und Kaninchen unter anderem in menschlichen Wohnzimmern und Gärten praktiziert wird In Kombination mit den unzähligen Verhaltensstudien, in Form von kurzen Videos, die auf der Homepage der Künstlerin abzurufen sind, und den handgeschriebenen und minutiös ausgearbeiteten tagebuchähnlichen Protokollen mit dokumentarischem Charakter, entsteht so ein komplexes, sehr persönliches Kaninchenethogramm, das das Potenzial birgt, über neue oder andere Formen des Zusammenlebens mit unseren nicht nur cuniculus-artigen Erdenmitbewohnern nachzudenken.
Der genauen Beobachtung verpflichtet sich auch Im Peutegrund (August 2008 – Februar 2011), in der es um die Kartierung und Pflege eines bedrohten Hamburger Hafenbiotops geht und das im Rahmen des Programms Kunst im öffentlichen Raum der Kulturbehörde Hamburg gefördert und durchgeführt wurde. Entgegen seiner Zuschreibung als Altlastverdachtsfläche macht Petzet auf den biologischen Wert des zehn Hektar großen Gebiets – das umgeben ist von industriell genutzter Landschaft – künstlerisch aufmerksam. Der biologische Wert eines solchen von gewerblicher Nutzung umgebenen Biotops liegt vor allem in der Steigerung von Biodiversität und Artenvielfalt, wie es der Garten- und Landschaftstheoretiker Gilles Clément in seinem Manifest der Dritten Landschaft ausführt. *10 Ganz in diesem Sinne, aber eben mit künstlerischen Mitteln – Kartierung und Film – dokumentiert auch Nana Petzet die Tier- und Pflanzenwelt, die sie bei ihren Erkundungen des Gebiets wahrnimmt. Dabei tritt sie erneut ein in ein differenziertes Akteur-Netzwerk bestehend aus den Lebewesen und Pflanzen vor Ort, Biologen, politischen Akteuren – dem BUND – und der Hamburg Port Authority. Letztere konnte Petzet im Rahmen ihrer Aktion erfolgreich davon überzeugen, und zwar mit einer künstlerischen Aktion, den sich im Biotop befindlichen und aus Japan kommenden Staudenknöterich, der zur Minderung der Artenvielfalt im Gebiet beiträgt, nachhaltig zu entfernen. Dazu startete Petzet eine Rodungsaktion von Teilen des Knöterichs. Erneut dient ihr auch hier das biologische Abfallprodukt als Ausgangspunkt für künstlerische Gestaltungen, sie wertet es also um und verwertet es weiter, unter anderem zu von der Decke hängenden künstlerischen Objekten, die in einer an das Biotop angrenzenden Bootshalle gezeigt wurden. Petzte greift also auf die Potenziale und Stärken von Akteuren unterschiedlicher gesellschaftlicher Felder zurück und verknüpft diese zu einem Netzwerk. Dies reichert sie mit ästhetischen Interventionen an, die nicht zuletzt der sinnlich-emotionalen Vermittlung eines biologisch höchst komplexen Vorgangs dienen, und erreicht so insgesamt realpolitische Auswirkungen.
Ganz ähnlich geht Nana Petzet auch bei ihrem Projekt Yamuna Sustainability Park vor, das sie aus Anlass der von Ravi Agarwal und Till Krause kuratierten Ausstellung Yamuna/Elbe Projekt in Neu Delhi initiiert: Der Fluss Yamuna fließt durch Neu Delhi und ist umgebenden von Auen, die bei Hochwasser überfluten. Petzet erkennt auch hier den Wert der Auen, nämlich aufgrund ihrer relativen Freiheit von menschlichen Eingriffen, Refugien der Artenvielfalt zu sein und so insgesamt zur Erhaltung und Steigerung von Biodiversität der Flusslandschaft beizutragen. In einem Teil der Auen startete die Delhi Development Authority mit Arbeiten an einem umstrittenen Park, wofür Teile der naturnahen Vegetation der Auen planiert werden musste. Dies nimmt Nana Petzet zum Anlass für künstlerische Interventionen, die nicht zuletzt aufgrund ihrer Ästhetik aktivistisches Potenzial entfalten oder zumindest aufrütteln sollen. Dafür greift sie zunächst auf das Medium Fotografie zurück und fängt Ausschnitte der im Gebiet lebenden Pflanzen- und Tierwelt ein. Zur Präsentation wählt Petzet gängige Protestästhetik, indem sie die Fotografien in Holzrahmen und -aufstellern präsentiert, die an Poster oder Plakate auf Demonstrationen erinnern. Nicht nur um die Ausschnitthaftigkeit ihrer Fotografien zu unterstreichen, sondern auch, um mit dieser Protestästhetik künstlerisch zu brechen und so für einen ästhetischen Hingucker zu sorgen, fehlt immer eine der Ecken der von ihrer Form her an Plakate erinnernden Holzrahmen oder bestehen diese immer aus fünf und nicht vier Ecken. Außerdem nutzt die Künstlerin den Mehrwert von Kunst, nämlich imaginieren zu dürfen oder Imaginationsräume eröffnen zu können, und gestaltet im Eingangsbereich der Ausstellung eine Schautafel, auf der sie ihre Version eines Yamuna Sustainability Park zeigt. Bekannte inhaltliche Motive sind auch hier wieder der Stellenwert naturnaher Biotope, die Petzet in ihrer nachhaltigen Version des Yamuna Parks vorsieht, ebenso wie die Wichtigkeit sozialer Aspekte, denn Bauern sollen hier landwirtschaftlichen Tätigkeiten nachgehen können.
Harmas KGV(seit 2020) ist eine Modellpflanzung mit zwanzig stark bedrohten heimischen Wildkräutern in einem Schrebergarten auf einem Kalksandsteinsediment, also einem kargen Stückchen Land, einem nährstoffarmen Trockenbiotop, auf dem sich auch Neophyten, verbotene Invasoren, ansiedeln. Auch bei diesem Projekt kooperiert Petzet mit Wissenschaftler:innen, Laien und Hobbykünstler:innen und veranstaltet Workshops.
Netzwerke zu knüpfen aus denen sympoietisch, im Zusammenwirken verschiedener Akteure, etwas Neues entsteht und die über eine künstlerisch inszenierte soziale Praxis hinausgehen, begreift Petzet als Möglichkeit von Kunst. Die Rezipierendenden werden dabei ebenfalls zu Akteuren in dem Netzwerk, zum Gärtner, Insektensammler, Sammler, Bewahrer, (Amateur)forscher etc. Sie fordert dazu auf, die Systeme, in denen wir leben, neu zu betrachten, wie es auch Autoren wie Donna Haraway oder Bruno Latour fordern. Damit macht sie insbesondere das Potenzial einer künstlerischen Perspektive für ein relationales und prozessuales Objektverständnis deutlich. Vor diesem Hintergrund lohnt es sich, Nana Petzets Oeuvre im Zeitalter des Anthropozäns (neu) zu lesen.
Idis Hartmann (*1983) studierte Jura und Kunstgeschichte an der Universität Tübingen sowie Kunst- und Filmwissenschaften an der University of Sydney in Australien. Seit 2010 ist sie am ZKM | Zentrum für Kunst und Medien Karlsruhe kuratorisch, als wissenschaftliche Assistentin des Direktors Peter Weibel, zwischenzeitlich als freie Mitarbeiterin und seit 2022 als wissenschaftliche Mitarbeiterin tätig. 2014–2018 war sie kuratorische Mitarbeiterin des künstlerischen Leiters Peter Weibel der lichtsicht – Projektions-Biennale in Bad Rothenfelde. Zudem arbeitet sie an ihrem Dissertationsprojekt zum Thema Modelle der Komplexität. Zum Verhältnis von Installationen und Systemen bei Prof. Dr. Barbara Lange am Kunsthistorischen Institut der Universität Tübingen, wo sie auch als Lehrbeauftragte tätig war.
Tim Jegodzinski (*1988) studierte Kunstgeschichte und Empirische Kulturwissenschaft in Tübingen und Hamburg. 2020 schloss er seine Promotion zu lebendigen Tieren in der Installationskunst seit den 1990er Jahren bei Prof. Dr. Barbara Lange in Tübingen ab, wo er außerdem Lehraufträge im Bereich der Gegenwartskunst ausübte. Seit 2022 vermittelt Tim Jegodzinski Informationskompetenz an der Universitätsbibliothek Mainz und ist im Wintersemester 2022/2023 Lehrbeauftragter am Kunsthistorischen Institut der Universität Mainz.
*1 Bruno Latour und Peter Weibel (Hg.), Critical Zones, The MIT Press, Cambridge/MA, London, ZKM | Center for Art and Media, Karlsruhe, 2020, S. 44–49.
*2 Vgl. zu Nana Petzets Kunst im Kontext der Naturwissenschaften: Susanne Witzgall, Kunst nach der Wissenschaft. Zeitgenössische Kunst im Diskurs mit den Naturwissenschaften, Verlag für moderne Kunst, Nürnberg, 2003, S. 214–222.
> *3 Judith Siegmund, „Poiesis und künstlerische Forschung“, in: dies. (Hg.), Wie verändert sich Kunst, wenn man sie als Forschung versteht?, transcript, Bielefeld, 2016, S. 105–121, S. 117.
> *4 Ilya Prigogine, Vom Sein zum Werden, 1992; Ilya Prigogine und Isabelle Stengers, Das Paradox der Zeit, 1993.
*5 Christiane Meyer-Stoll, „Arbeiten an der Erkenntnis: Nana Petzets Rational Scientific Art“, in: Nana Petzet. Der Tausendjährige Raum. Reversion. Schrödingers Katzen, Ausst.-Kat. Kunstraum München e.V., München, 1993, S. 4–7, hier S. 6.
*6 Nancy Katherine Hayles, “Speculative Aesthetics and Object-Oriented Inquiry (OOI)”, in: Speculations: A Journal of Speculative Realism, Vol. 5, 2014, S. 158–179; Vilém Flusser, Vampyroteuthis Infernalis, University of Minnesota Press, Minneapolis, London, 2012.
*7 „This implies a double gesture of using the biologist’s knowledge but also going beyond it into what can be known only because of the deeply shared relationship. […] we must liberate ourselves above all from a model according to which existence is the meeting of a ‘transcendental’ subject (a mind) with objects; of a ‘self’ with a ‘world.’ According to this model, for example, knowledge would be the meeting between the one-who-knows with what-is-to-be known.“ Hayles 2014, S. 166.
*8 Vgl. Internetauftritt der House Rabbit Society: https://rabbit.org/ (7.11.2022).
*9 Donna Haraway, Das Manifest für Gefährten, Merve, Berlin, 2016, S. 9.
*10 Vgl. Gilles Clément, Manifest der Dritten Landschaft, Merve, Berlin, 2010.
„Betreten verboten“
Interview mit Nana Petzet zur Idee der Freien Flusszone und über ihr Projekt Im Peutegrund im Hamburger Hafen
Das Interview wurde im Oktober 2019 geführt.
Till Krause: Warum hast du bei der Freien Flusszone mitgemacht?
Nana Petzet: Die Freie Flusszone ist interessant für mich. Da geht es um Grundsätzliches, an dem ich schon lange arbeite, darum, ob wir immer alles Land nutzen müssen, und darum, wie wir intensiv genutzten und stark regulierten Naturräumen wieder eine eigendynamische Entwicklung zugestehen können. Berührungspunkte sehe ich vor allem mit meinem Projekt Im Peutegrund, an dem ich von 2008 bis 2011 gearbeitet habe. Die Peute befindet sich ja auch auf der Elbinsel [wie große Teile der Freien Flusszone], aber auf der entgegengesetzten, nördlichen Seite, an der Norderelbe. Schon 2008 bezog ich mich auf das Heuckenlock¹ und betrachtete es als „Referenzbiotop“ für mein weniger ursprüngliches Projektareal im Industriegebiet Peute. Mit der Freien Flusszone meinst du aber ja nicht nur das Naturschutzgebiet Heuckenlock, sondern ein viel größeres Gebiet.
TK: Ja, dazu gehören auch Straßen, Deiche, Dörfer, Agrarland, Kleingartensiedlungen, Autobahn, Tankschiffanleger, Sozialbausiedlung, Villen, Friedhof…
NP: Mich hat speziell das Heuckenlock interessiert, als ich über das Plakat für die Freie Flusszone nachdachte. Ich fand die Aufgabe aber nicht leicht, vor allem, weil ich ja meistens Projekte mache, die vielfältige Medien benutzen und unterschiedliche Experten einbeziehen und sich über lange Zeiträume entwickeln. Die Herausforderung für mich war: Wie sage ich alles in einem einzigen Bild?
TK: Die gemeinschaftliche Aktion, die zu diesem Bild führte, die Zusammenarbeit mit Experten und das Prozessuale, das in deiner Arbeit meistens eine so große Rolle spielt, hast du ja in aller Deutlichkeit zum Teil dieses „einzigen Bildes“ gemacht: In den Autorenschaften von allen, die maßgeblich zur Realisierung deines Plakates beigetragen haben – in den Beiträgen des Reptilienzüchters Florian Häselbarth, des Fotografen Helge Mundt und der GFLK –, siehst du einen solch wichtigen Stellenwert, dass du sie mitten im Bild in großen Buchstaben aufführst.
NP: Und wir haben ja auch zur Vorbereitung mehrere Begehungen der Freien Flusszone gemacht, mit Ravi Agarwal, mit Katja Lell und mit Friederike Richter*2. Diese Führungen waren so etwas wie eine Recherche mit Experten, die in meinen Arbeiten wichtig ist, und in diesem Fall bist du der Experte. Du kennst dort jeden Winkel. Da sind wir doch irgendwann auch unter Autobahnbrücken herumgekrochen. Und immer wieder die Beobachtungen: Wie ist das Ufer befestigt, kann sich der Fluss entfalten?
Wenn ich darüber nachdenke, erscheint es fast wie ein Wunder, dass dieses eine Bild entstanden ist. Das ist für mich etwas Spezielles, weil ich nicht so über das Plakat reden kann, wie ich beispielsweise über die Lichtfalle*3 rede, da es für mich nicht begrifflich aufschlüsselbar ist. Was bedeutet die Glashaube? Das kann ich nicht sagen. Die ist ja erst im Umgang mit den Krokodilen notwendig geworden, damit sie nicht in die kalte Elbe entwischen. Eigentlich wollte ich ja keine Haube – die ist aber super!
TK: Ich hatte eigentlich nicht vor, dich nach Erklärungen zu deinem Plakat zu fragen, weil es darum geht, mit eigenen Augen zu sehen, und nicht darum, eine Deutung vorgesetzt zu bekommen. Insofern mag ich es, dass du sagst, du könntest nicht alles im Plakat sprachlich begründen. Aber nun doch eine Frage zum Plakat, und zwar zur abgebildeten Landschaft. Du sagst, dass das Heuckenlock der eigentliche Bezugspunkt für dich war. Warum hast du aber das Bild nicht am Heuckenlock, sondern am Bade- und Grillstrand bei den Süderelbe-Brücken aufgenommen?
NP: Ich wollte, dass man sofort sieht, dass das Bild in Hamburg aufgenommen wurde. Die Brücke ist wichtig, um das zu erkennen. Hätte ich das Krokodil im Heuckenlock fotografiert, hätte man den Ort für irgendeine Wildnis gehalten, aber nicht Hamburg zugeordnet. Das Urwaldartige, das ich im Heuckenlock empfinde, steckt für mich sozusagen im Krokodil.
TK: Als letztes Wochenende Ulrich Kahle in unserem Freie-Flusszone-Raum im Bamberger Kunstverein*4 dein Plakat sah, erkannte er sofort die Brücke als die Süderelbe-Brücke. Als jemand, der nicht aus Hamburg kommt! Diese Brücke ist eine der wenigen Landmarken im Gebiet der Freien Flusszone, an denen deutlich sichtbar ist: Hier ist Hamburger Gebiet.
NP: Und doch ist es so, dass viele Hamburger das Gebiet nicht kennen. Und man kennt auch nicht unbedingt das Heuckenlock. Sogar Leute mit Interesse für Landschaft und Naturschutz haben häufig noch nie davon gehört, das ist verblüffend. Letztes Jahr gab’s eine Plakataktion der Stadt für die Hamburger Naturschutzgebiete. Über einem Foto vom Heuckenlock standen die Zeilen: „Amazonas Delta? Nein, Heuckenlock!“ Also, dieser Dschungel ist hier bei uns!
Am Heuckenlock finde ich interessant, dass es so ein „Rest“ ist. Und wie eingeschränkt es eigentlich ist. Es ist ja wirklich krass, wie es zwischen dem Deich und den befestigten Ufern eingezwängt liegt. Trotzdem, obwohl das Gebiet so winzig ist, kann man dort eintauchen und sich vorstellen, dass die ganze Elbinsel mal so ausgesehen hat [also auch die Stadtteile Wilhelmsburg und Veddel und der gesamte Hamburger Hafen]. Faszinierend!
TK: Hast du das Heuckenlock deshalb als Referenzfläche für das Projekt Im Peutegrund bezeichnet?
NP: Ja. Der Peutegrund wurde ja zunächst agrarisch und städtisch genutzt und dann durch Sturmfluten und Deichbruch für die Natur zurückgeholt. Dagegen nehme ich an, dass das Heuckenlock, zumindest anteilig, vielleicht noch nie genutzt wurde.
TK: Das ist ein weitverbreiteter Mythos, aber ich denke, es stimmt so nicht. Das Gebiet, so klein es ist, besteht doch aus ganz unterschiedlichen Arealen. Etwa die ausgedehnten Reetflächen, die früher bewirtschaftet wurden. Anwohner erzählten uns, sie hätten früher das Recht gehabt, dort das Reet für ihre Häuserdächer zu schneiden. Das ist ja auch eine Form von landwirtschaftlicher Nutzung. Oder folgt man dem Pfad, den man heute durch das bewaldete Gebiet gehen darf, so stößt man auf alte Obstbäume, Kopfweiden, künstliche Bodenwellen, Wegepflasterungen, Gräben und so weiter. Meines Erachtens ist es auf jeden Fall eine Kulturlandschaft, die aber wegen ihrer sperrigen Lage entlang einer Ländergrenze vergleichsweise wenig genutzt und zudem später nicht vollständig eingedeicht wurde und darum auch heute noch Aspekte des Tideauenwalds hat*5. Aber noch vor kurzer Zeit, vor nur 50 Jahren, hat man dort Ein- und Ausdeichungen vorgenommen und das, was heute als so wertvoll empfunden wird und was damals in noch viel ausgedehnterer Form vorhanden war, stark verkleinert*6.
Bitte erzähl doch mehr über das Peuteprojekt, denn es ist interessant für die Freie Flusszone und für das gesamte Hafengebiet.
NP: Ich wurde im Rahmen des Elbinsel Sommers 2008 der Internationalen Bauausstellung Hamburg eingeladen, einen Beitrag zur Ausstellung Kultur / Natur*7 zu entwickeln. Ich hatte freie Hand und konnte mir irgendein Thema, das mit Natur und Elbinsel zu tun hat, aussuchen. Durch Harald Köpke vom BUND [Bund für Umwelt und Naturschutz Deutschland e.V.] bin ich auf ein kleines Biotop im Industriegebiet Peute aufmerksam geworden. Dort ist es das einzige Stück Land, auf das die Tide einen gewissen Einfluss hat, obwohl es hinter dem Deich liegt. Ein bei der Hafenentwicklung übrig gebliebener Rest ursprünglichen Marschlandes, wild zugewuchert, mit einem flachen Teich in der Mitte. Ein sich seit den Siebzigern ungestört entwickelndes Biotop, klein, ungefähr 6,5 Hektar groß. Es ist HPA-Gelände – das war eine Auswahlbedingung für mich, da ich mich dafür interessierte, wie sich die gegensätzlichen Interessen von Hafen und Naturschutz in der Entwicklung einer konkreten Hafenbrache niederschlagen. Zunächst begann ich damit, Biodiversität und Geschichte des Peutegrunds zu erforschen.
TK: Aber es war doch, so wie es heute aussieht, nicht ein übrig gebliebener Rest feuchten Landes, sondern ein verschlicktes, ungenutztes Hafenbecken, die Verlängerung des nebenan liegenden Peutehafens?
NP: Nein, der Peutegrund ist meinen Informationen nach ein altes Marschland und schon seit dem 17. Jahrhundert eingedeicht. Zunächst wurde das Gelände agrarisch genutzt. Vom benachbarten Binnenschifffahrtshafen, dem Peutehafen, war es immer durch einen Deich getrennt. Nach dem Zweiten Weltkrieg bauten sich Menschen, die nichts zum Wohnen hatten, dort auf dem Gelände Hütten. Ein basteliges Gebiet entstand, eine Mischung aus Kleingärten und Werkstätten. Zum Beispiel weiß ich von einer Schiffstischlerei. Bei der legendären Sturmflut von 1962 wurde der umliegende Deich zunächst überflutet, dann brach er – zwei Menschen starben im Peutegrund. Danach dachte man, das Gelände weiterhin als Nutzfläche erhalten zu können. Aber bei jeder folgenden großen Sturmflut stand die ganze Gegend unter Wasser. 1977, 78 schützte man die Umgebung des Peutegrunds durch eine Spundwand in Höhe der damals aktuellen Deichlinie von 7,3 Metern über Normalhöhennull. Den elbseitig am Peutegrund gelegenen Deich, den Peuter Elbdeich, erhöhte man ebenfalls und verbreiterte ihn, sodass er sich wie eine Landzunge bis zum Peutehafen zieht. Auf diesen Deich siedelte man die Betriebe vom Peutegrund um und ließ dort von nun an niemanden mehr arbeiten, wohnen oder gärtnern. Der Peutegrund war nun aus dem sturmflutgesicherten Gebiet ausgegrenzt, denn den niedrigen Deich zwischen ihm und Peutehafen erhöhte man nicht. Bei besonders hohen Sturmfluten wird er überspült. Man legte ein Entwässerungsrohr durch ihn hindurch, sodass Wasser bei Niedrigwasser ablaufen kann. Dieses Rohr ist mit einer Rückstauklappe versehen, damit die normalen Hochwasser nicht in den Peutegrund eindringen können. Seit damals hat die Eigentümerin Strom und Hafenbau, die heutige HPA, nichts mehr dort gemacht. Das ist eine lange Zeit, sodass von ganz allein ein Biotop im Peutegrund entstand. Für die HPA war es aber nur eine graue Fläche auf der Landkarte, die man sich dafür vorbehielt, sie zukünftig zu bebauen oder in anderer Weise für den Hafen zu nutzen.
TK: Aber hattest du nicht bei deinen Erkundungen entdeckt, dass die Rückstauklappe im Entwässerungsrohr defekt ist und die Flut in den Peutegrund eindringt?
NP: Ja. Und Elisabeth Essen, die seit den Fünfzigerjahren auf und neben dem Peutegrund lebt, erzählte mir, dass irgendjemand das Ventil im Rohr zerstört hätte, damit die Flut den Teich im Peutegrund speisen und man dort im Winter Schlittschuh laufen und Eisstock schießen kann. Damit war das Gebiet also in geringem Maße der Tide ausgesetzt. Dieser Umstand rückt es näher an die Bedingungen für die Entstehungen eines Tideauwalds heran, also an die Bedingungen für die fast ganz verschwundene, gebietsheimische Vegetationsform der gesamten Elbinsel.
Deshalb lag es für mich nahe, im Peutegrund zunächst Pflanzen- und Tiere zu erfassen und Fotos und Filmaufnahmen der gefundenen Spezies zu machen. Ich beschaffte mir den Erhebungsbogen zur Biotopkartierung Hamburg der Umweltbehörde. Die letzte Erhebung stammte von 2003 und erfasste nur die Pflanzen und die Habitattypen, sodass wir sehen wollten, was sich hier seitdem entwickelt hatte. Ich machte Begehungen mit dem Ornithologen Günther Rupnow vom NABU [Naturschutzbund Deutschland e.V.]. Mit dem Entomologen Frank Röbbelen suchten wir nach Schmetterlingen und Heuschrecken, Andromeda v. Prondzinski kartierte die Vegetation, und mit Harald Köpke untersuchten wir Wassertiere.
Ich filmte und machte Interviews mit Anwohnern. Und ich setzte mich mit der HPA auseinander. Mein Projekt fand ja im Rahmen der Internationalen Bauausstellung, also im Rahmen eines Stadtentwicklungsprogramms statt. Und die Eigentümerin des Geländes, die HPA, als Nachfolgerin der Behörde Strom und Hafenbau, ist ebenfalls städtisch. Deshalb wollte ich mit der HPA direkt in Kontakt treten und von ihr das Kartieren, Filmen und Knöterich-Roden im Peutegrund genehmigen lassen. Die Genehmigung wurde mit Hinweis auf die Klassifizierung der Fläche als „Altlastverdachtsfläche“ abgelehnt. Trotzdem machte ich meine Aktionen. Daraufhin wollte mich die HPA verklagen. Also bin ich zum Pressesprecher der HPA gegangen und habe meinen Film über das Gebiet gezeigt. Dann war Ruhe.
Gerade zur damaligen Zeit hatte die HPA viele wertvolle Biotope im Hafengebiet zerstört. Vor allem an der Rethe, am Blumensandhafen und bei der Hohen Schaar waren wichtige Rückzugsorte für Wasservögel verloren gegangen. Ausgleichsmaßnahmen müssen aus Sicht der HPA außerhalb des Hafens stattfinden, bloß nicht auf dem eigenen Grund, damit man dort immer freie Hand für die Hafenwirtschaft behält. Es gibt bei der HPA eine große Sorge, dass sich auf Hafenflächen, die längere Zeit brachliegen, Biotope entwickeln könnten. Biotope, die mit der Zeit ökologisch so wertvoll werden, dass auf die Flächen zukünftig nicht mehr willkürlich für Hafenzwecke zugriffen werden darf. Um solche Entwicklungen zu verhindern, werden Flächen präventiv versiegelt oder Rasenflächen angelegt.
Vor diesem Hintergrund haben wir – der BUND und Kunst – gemeinsam an der Verbesserung der Artenvielfalt des Peutegrunds gearbeitet, mit dem Ziel, seinen Schutzstatus zu erhalten und damit das Gebiet dem zukünftigen Zugriff durch Hafen oder Stadtentwicklung zu entziehen. Wir haben – als eine Provokation – im Rahmen des Kulturprogramms der Internationalen Bauausstellung einen Eingriff auf diesem HPA-Grund vorgenommen: eine Biotop-Pflegeaktion. Wir haben Knöterich gerodet. Der invasive Japanische Staudenknöterich hatte sich extrem dicht ausgebreitet, und wir haben ihn auf einem kleinen Stück des Peutegrunds gerodet und die Knöterichstangen in der nahe gelegenen Bootshalle von Elisabeth Essen ausgestellt.
Diese Aktion wurde von der HPA als deutliches Signal empfangen. Das Gebiet wurde eingezäunt, und alle zehn Meter wurden Schilder aufgestellt: „Privatgrundstück, betreten verboten, HPA“. Zuvor konnte dort jeder hin und machen, was er wollte, Lkw-Fahrer, Freizeitangler, alle. Aber kaum macht jemand etwas über den Wert des Biotops öffentlich, gehen die Alarmglocken los! Genau um diesen Widerstreit von Interessen ging es mir. Ich fand, dass die Verbotsschilder eigentlich ein Teil meines Projekts waren. Und wie viel Wildnis wünscht man auf der Elbinsel? Und wenn sie dann da ist, was ist sie einem wert? Könnte nicht sogar dieser Deich zum Peutehafen weg? Der ist ja sowieso schon durchlöchert. Da wäre es doch einfach, dem Fluss an dieser Stelle ein kleines bisschen Freiheit zurückzugeben. Dadurch würde natürlich das zerstört, was sich bis jetzt dort entwickelt hat, aber es gäbe richtigen Tideeinfluss.
TK: Der Tideeinfluss würde, denke ich, sehr rasch wieder von allein verschwinden, da der Peutegrund eine Sackgasse ist und die Durchströmung fehlt. Der Fluss würde mehr Sedimente hinein- als hinaustragen. So würde das Gebiet nach der Deichöffnung schnell verlanden und wieder dem heutigen Zustand ähneln.
Das ist im „Referenzbiotop“ Heuckenlock ganz ähnlich. Zwischen Heuckenlock und Elbe liegen weitenteils Deckwerke, Steinböschungen zur Kanalisation des Flusses, aber auch zum Schutz des Heuckenlocks vor der starken Strömung und vor der Gefahr, weggespült zu werden. Mehrere Priele führen in das Naturschutzgebiet hinein, meines Wissens alle als Sackgassen. Beziehungsweise jenem schönen, lang gestreckten Flussarm namens Heuckenlock, den man auf dem öffentlichen Heuckenlock-Pfad überquert, ist an seinem Ostende nur ein äußerst schmaler Rücklauf in die Elbe gestattet, eigentlich nur ein Rinnsal durch eine Minilücke im Deckwerk. Dadurch fehlt die wirkliche Durchströmung des Gebietes mit all den damit verbundenen Veränderlichkeiten und Angriffsmöglichkeiten durch den Fluss. Die Wechselwirkung zwischen Land und Strom ist also kaum gegeben, vom viel gerühmten Süßwasser-Tideauenwald existiert nur ein äußerst kontrolliertes Restchen. Lina Güssefeld*9 hatte als eines der Resultate ihrer Diplomarbeit über die Deckwerke am Heuckenlock – dieses Diplomarbeitsthema war ja durch unser Projekt initiiert – vorgeschlagen, eine größere Durchströmung des Heuckenlocks zu erwägen. Die zuständige Mitarbeiterin des Bezirksamtes und die Stiftung Lebensraum Elbe hörten sich die Vorschläge damals äußerst interessiert an, beschlossen aber dann, an dieser Stelle vorerst nichts zu ändern – meiner Wahrnehmung nach aus Sorge vor unvorhersehbaren Zerstörungskräften der Flussenergie, die das Naturschutzgebiet wegspülen könnte. Und wir wissen ja, wie sehr diese hohe Energie auf die Elbvertiefung für die Containerschifffahrt zurückzuführen ist.
Zurück zum Peutegrund. Sagtest du nicht mal, dass durch dein Kunstprojekt der Peutegrund als schützenswertes Biotop anerkannt wurde?
NP: Das würde ich so nicht behaupten. Erstens hatte das Gebiet schon vor 2008 einen gesetzlichen Schutzstatus, wenn auch den niedrigsten. Aber das Paradoxe war ja gerade, dass sich das Biotop durch die starke Neophytenausbreitung von selbst entwertet und um den Schutzstatus gebracht hätte, wenn dort nicht „gärtnerisch“ eingegriffen worden wäre. Da hat das Kunstprojekt zwar die Sache angestoßen, aber in Zusammenarbeit mit Harald Köpke vom BUND. Drei, vier Jahre später kam es durch seine Initiative tatsächlich dazu, dass die HPA in dem Gebiet zwei weitere kleine Teiche anlegte und den Knöterich beseitigte – ein bisschen großzügiger, als wir das geschafft haben. Und samt Wurzeln.
TK: Ist damit jetzt der Peutegrund als sogenannte Ausgleichsfläche definiert?
NP: Nee, so auch wieder nicht, bloß keinen Präzedenzfall schaffen! Dennoch, die HPA hat Geld investiert für eine ökologische Aufwertungsmaßnahme auf ihrem Gebiet. Das war schon ein Novum. Es wäre interessant, der Sache noch mal nachzugehen und herauszufinden, wie die Verantwortlichen bei der HPA heute dazu stehen.
TK: Darf ich noch hinsichtlich der Knöterich-Beseitigungsaktion nachfragen, die du angezettelt hast? Andromeda v. Prondzinski, die&der dir ja bei der Kartierung des Peutegrunds half, hat für die Freie Flusszone zwei Plakate, eine Postkarte und einen dazugehörigen Text verfasst, der sich gegen die wertende Einteilung in Heimisches und Fremdes, gegen den Begriff der invasiven Art und gegen Vernichtungsaktionen von „nicht heimischen“ Pflanzen wendet. Du kanntest diese Position, trotzdem hast du die Beseitigungsaktion durchgeführt. Warum?
NP: Ja, Andromeda fand’s verkehrt. Aber ich finde es immer interessant, Interventionen und exemplarische Eingriffe ins System zu machen. Daran zeigen sich andere Dinge, als wenn man nur darüber redet oder schreibt oder nur Fotos macht. Eine solche Aktion macht eben auch Konflikte sichtbar. Ich arbeite ja in den Widersprüchen und widerstreitenden Ansprüchen. Wir haben Natur zerstört, um sie zu schützen.
Außerdem bin ich mir gar nicht so im Klaren darüber, ob ich es richtig oder falsch finde, in Naturschutzgebieten Eingriffe vorzunehmen und das zu dezimieren, was man da nicht haben will. Wenn man zusehen muss, wie seltene heimische Pflanzen in einem engen Restbiotop von Neophyten überwuchert werden und dadurch auch bedrohte Tierarten verschwinden – ich kann gut nachvollziehen, dass man auf die Idee kommt, einzugreifen. Frank Röbbelen hat bei seiner Begehung die Besiedlung des Peutegrunds durch die Gestreifte Zartschrecke nachgewiesen. Die heimische Hochstaudenflur, die der Gestreiften Zartschrecke einen Lebensraum bietet, wäre durch den Staudenknöterich verdrängt worden. Der Knöterich hatte es mit kräftiger Unterstützung durch die Armenische Brombeere und die Kanadische Goldrute im Peutegrund schon ganz gut hingekriegt, das Reet und die Hochstaudenflur zu verdrängen und das Gebiet nahezu ganz zu übernehmen. Damit hätte sich das Biotop leider selbst entwertet, was die Artenvielfalt und den Schutzstatus betrifft. Ohne unsere Aktion stünde dort heute vielleicht eine Lagerhalle.
TK: Aber du sprichst ja auch immer wieder von der Idee der „Eigendynamik“ und von „sich selbst entwickelnden Biotopen“. Auch bei Andromeda spielt generell, so glaube ich, die Idee des „Seinlassens“ eine große Rolle. Und im Freie-Flusszone-Projekt erstreckt sich diese Idee nicht allein auf Naturprozesse, sondern aus dem künstlerischen Blick heraus auf sehr viel mehr – eigentlich auf alle Phänomene, die uns umgeben. Für mich spielt der Gedanke eine Rolle, dass in allem – sei es ein Ding oder ein Lebewesen oder einfach nur eine einfache Geste oder Bewegung – etwas steckt, das um seiner selbst willen da ist und darum „sein gelassen“ werden könnte. Das kann ich nicht gut näher beschreiben, nicht als eine konsequent aufschlüsselbare Denk- oder Handlungsweise, sondern mehr als eine Haltung oder als ein Verhältnis. Etwas um seiner selbst willen zu tun und zu bestaunen ist ein wesentlicher Aspekt der Kunst. Insofern ist das Freie-Flusszone-Projekt kein Naturschutzvorhaben – obwohl es sich an vielen Stellen eng mit dessen Anliegen zusammentut –, sondern es ist eher eine künstlerische Projektion auf eine Landschaft mit ihren sehr vielen unterschiedlichen Phänomenen.
NP: Wieso hast du ausgerechnet die Süderelbe dafür gewählt?
TK: Der Impuls war tatsächlich dieser eigenartige Widerspruch zwischen der Existenz des Süßwasser-Tideauenwalds und dessen gleichzeitige rigorose Verhinderung durch die Art und Weise des Flussbaus mit seiner Gradlinigkeit und seinen Steinwandungen. Die totale Einordnung des gesamten Gebietes in die Funktionalisierung des Flusses als Verkehrsweg und Wasserabfluss. Das Feste und das Flüssige, das Statische und die andauernde Veränderung stoßen an der Süderelbe hart aufeinander. Beides ist jeweils in deutlicher Form vorhanden. Das ist eine sehr besondere Situation und war der Anstoß, das Gebiet als Modellgebiet zu nehmen und es auch über die Ufer hinaus sehr viel näher anzusehen.
In deiner Kunst sehe ich die Methode, dass du Themen, an denen sich große gesellschaftliche Debatten entzünden (etwa ein Thema wie das Müllrecycling), und ihre Regularien und Symbole (etwa das Duale System mit dem Grünen Punkt) aufgreifst und dich zu deren Ober-ober-Anwältin machst und sie intensiv durchspielst.*10
NP: Und vor allem ernst nehme!
TK: Als Spiel total ernst nimmst.
NP: Ja, ich mache mich spielerisch zur Anwältin der Natur und nehme die Regeln und Gesetzte sehr ernst und arbeite mich an ihnen ab. Da sind zum Beispiel Umweltverträglichkeits- und Machbarkeitsstudien, Ökobilanzen, die Regeln des Biotopschutzes, die Bestimmung des Biotopstatus und all die Möglichkeiten, die damit verbunden sind, wie zum Beispiel die, Beschwerde bei der EU einzureichen. Alle, einschließlich der Politiker, der Stadtentwickler und der HPA, alle behaupten, dass ihnen Umweltschutz wahnsinnig wichtig ist. Und was ist denn, wenn man es wirklich ernst meint? So gehe ich vor. Und wenn ich dann durch diese spielerische Einnahme der hundertprozentigen Naturschutzperspektive auf Fragen, Widersprüche und Grenzen stoße und in Teufels Küche komme, dann wird’s spannend, dann werden die Widersprüche der Reden und Absichtserklärungen sichtbar. Was bedeutet das? Was sind die Konsequenzen? In welchem Widerspruch befindet man sich grundsätzlich als Mensch, wenn man die Natur erhalten, schützen oder wiederherstellen will?
Bei allem Spiel ist allerdings der Naturschutz für mich wirklich eine Motivation und ein großes Anliegen. Er hat in meiner Arbeit Priorität vor anderen Themen. Aber die spielerische Einnahme des Themas ist wichtig, weil sie erlaubt, viel tiefer in die Gesamtproblematik einzusteigen. Gerade lese ich das Buch Homo Ludens – Vom Ursprung der Kultur im Spiel von Johan Huizinga aus den 1930ern. Er erklärt unsere gesamten Kulturleistungen aus dem Spiel heraus und das Spiel wiederum als etwas, das in einem sportlichen Wettstreit stattfindet, der ursprünglich auch einen sakralen Charakter hatte. Sämtliche Bereiche, die wir als Kultur bezeichnen, hätten ihren Ursprung im Spiel, hätten sich dann aber sehr stark davon entfernt. Zumindest denkt heute keiner mehr, dass beispielsweise eine Gerichtsverhandlung oder eine Großbaustelle ein Spiel sei oder einen spielerischen Aspekt habe. In der Kunst seiner Zeit kann Huizinga das nicht mehr feststellen, er sieht sie mehr als gesellschaftliches Spiel von Kennern und Nichtkennern. So wie ich Kunst auffasse, kann ich den Ursprung im Spiel erfahrbar machen.
Bedingung ist: Das Spiel muss einen abgesteckten Rahmen haben, der klar definiert ist und in dem dieses Spiel stattfindet, herausgehoben aus dem Alltag und seinen Notwendigkeiten. Wie ein Schachbrett, ein Fußballfeld oder eben wie das Kunstfeld. Das Kunstfeld ist eine Spielwiese, es hat etwas Unernstes, hat eigene Gesetze. Und diese Gesetze sind wiederum ganz ernst zu nehmen, sonst macht es nämlich keinen Spaß. Wenn ich zum Beispiel Schach spiele und der eine sagt, sein Springer könne, was eine Dame kann, dann ist er ein Spielverderber, und es macht keinen Spaß, mit ihm zu spielen. Bei der Kunst ist es nur viel schwerer zu erklären, was die Regeln sind. Aber es gibt Regeln. Wir haben ja genaue Vorstellungen davon, was Kunst ist und was keine Kunst ist.
TK: Ja, die Regeln sind in der Kunst unglaublich präsent und trotzdem so schwer beschreibbar. Gleichzeitig wehren wir uns die ganze Zeit gegen die Regeln, werfen sie über den Haufen und halten uns wiederum an sie.
NP: Und es gibt einen Wettstreit. Da ist dieser Ehrgeiz: „Ich finde jetzt das richtige Bild!“ Da ist ein Wettstreit mit sich selbst und mit den Kollegen. Natürlich gibt es auch den Kunstmarkt. Der ist ein eigenes Spielfeld, und da ist ganz klar, wer da vorne ist und wer nicht. Und ich bin da nirgends, quasi nicht vorhanden. Den Wettstreit auf diesem Feld habe ich bisher nie gesucht. Allerdings fehlt dem Kunstmarkt eine wesentliche Bedingung für den Spielcharakter, nämlich die, dass das Spiel seinen Zweck in sich selbst hat. Hier steht der merkantile Zweck im Vordergrund. Das Primat des Kommerziellen zerstört hier den Spielcharakter der Kunst. Es gibt aber noch den anderen Wettstreit, den ich da durchaus sehe, nämlich: Wie kann ich etwas Interessantes zu dem Ganzen hinzufügen oder es sogar vielleicht erweitern? Also, auf diesem Ideenmarkt sehe ich mich und fühle mich dort herausgefordert. Es ist ein ideeller Wettstreit, im Idealfall reiner Selbstzweck.
TK: Du hast über den abgrenzenden Rahmen, über die Wichtigkeit der Spielfeldgrenzen gesprochen. Wie sieht das im Fall des Peutegrunds oder der Freien Flusszone aus? Du nimmst Naturschutz und dessen Regeln total ernst, aber als Spiel. Und gleichzeitig mischt sich deine Tätigkeit mit der von den BUND- und NABU-Naturschützern. Sogar du selbst bist im Herzen als Naturschützerin dabei, nicht nur als Künstlerin. Das trifft sich und vermengt sich. So kommen in unsere Kunstprojekte andere Anliegen und Wünsche mit hinein, andere Spiele, Bezüge und Zwecke. Damit wird die Spielfeldgrenze unklar, vielleicht durchlöchert.
NP: Ja. Ich finde diese Frage immer sehr schwer. Was ist denn da Kunst, wo sind die Grenzen der Kunst? Geht’s da nicht nur um Umwelt? Viele Kunst macht es sich zur Hauptaufgabe, die Bedingungen der Kunst zu erkunden. Das tue ich nicht. Ich weiß natürlich, dass ich das auch tue, indem ich das tue, was ich tue. Durch meine Kunst berühre ich ständig diese Fragen und verschiebe die Grenzen. Aber ich mache sie nicht zum Thema.
Mir hilft dieser Gedanke des Spiels. Denn zum Spiel kommt die Freiheit. Innerhalb der Regeln ist Freiheit. In der antiken Tragödie gibt es ja die Maske des Schauspielers. Meine Maske ist die, dass ich mich in lauter kunstfremde Themen relativ weit reinwühle. Wenn ich gerade fit bin, kann ich in diesen Themen und mit den richtigen Fachtermini so gut reden, dass alle denken, ich sei beispielsweise Biologin. Ich kann dann so reden, als wäre ich eine, bin es aber nicht. Und das ist wie eine Maske, die ich mir aufsetze, als wenn ich klassisches Theater spielte. Durch die Maske habe ich die nötige Freiheit, kann gewagte Spielzüge vornehmen oder die Spielzüge des Naturschutzes mit denen der Kunst verlängern und umgekehrt. Im Unernst des künstlerischen Spiels kann ich die ernsten Themen sehr frei und weitreichend bewegen.
Auch mit der Freien Flusszone steckst du ein künstliches Spielfeld ab, aber ein ganz konkretes: einen Teil der Stadt Hamburg und einen Zipfel Niedersachsens, ein ziemlich großes Gebiet. Das gibt es wirklich, aber als etwas Hypothetisches, als Kunstfeld. Und darin kann jetzt alles Mögliche passieren, nach Kunstregeln. Es geht um etwas ganz Konkretes und darin um Freiheit.
*1 Heuckenlock: ein Areal mit Naturschutzstatus im Gebiet der Freien Flusszone. Siehe dazu Lina Güssefelds und Michael Strucks sowie Jacqueline Neubeckers Beiträge in diesem Buch.
*2 Ravi Agarwal und Katja Lell: siehe deren Beiträge und Interviews in diesem Buch. Friedericke Richter leitete lange Zeit die Freie-Flusszone-Plakatierung, von ihr stammen viele Fotos in diesem Buch, und sie unterstützte das Projekt in vielfältiger Weise.
*3 Siehe Fußnote 1.
*4 Im Rahmen der Gruppenausstellung Natur als Argument, Kunstverein Bamberg, Stadtgalerie Villa Dessauer, 2019.
*5 Die Entstehungsgeschichte des Heuckenlock-Gebietes ist in diesem Buch sehr viel präziser von Michael Struck beschrieben: Siehe das Kapitel 2.5 in Untersuchungen zur Dynamik an der Uferbefestigung der Süderelbe entlang des Naturschutzgebiets Heuckenlock.
*6 Siehe das Kapitel Die Karte 1:5000 Neuland-Ost in diesem Buch.
*7 Siehe das Buch: Anke Haarmann und Harald Lemke (Hg.), Kultur/Natur: Kunst und Philosophie im Kontext der Stadtentwicklung, Jovis Verlag, Berlin 2009.
*8 HPA: Hamburg Port Authority, Anstalt öffentlichen Rechts, Nachfolgerin von Strom und Hafenbau, der ehemaligen Hamburger Hafenbehörde.
*9 Lina Güssefeld (Friel), Geografin, arbeitet von 2012 bis 2013 maßgeblich an dem Projekt Freie Flusszone mit. Siehe auch ihren Beitrag zu diesem Buch.
*10 Siehe dazu die Internetseite www.nanapetzet.de, außerdem die Bücher: Nana Petzet, Sammeln Bewahren Forschen. Das SBF-System 1995–2001, hg. v. Künstlerstätte Schloss Bleckede, Salon Verlag, Köln 2001; Nana Petzet, System SBF. Inventarisierung der Sammlung. Metainventur, Verlag für moderne Kunst, Nürnberg 2003.